Gewalt erzählen

Veranstalter
DIEGESIS, Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research
PLZ
42119
Ort
Wuppertal
Land
Deutschland
Findet statt
Digital
Vom - Bis
31.03.2024 -
Deadline
31.03.2024
Von
Tanja Walbersdorf, DIEGESIS, Universität Wuppertal

Körperliche Gewalt und ihre psychologische Fortsetzung, zu der sich die Grenze nicht immer scharf ziehen lässt, bildet den Kern epischer Erzählungen und tragisch dramatisierbarer Mythen. Zugleich bietet sie einen Anknüpfungspunkt an lebensweltlich höchst relevante Zeugnisse real erlebter Gewalt. Sie ist dementsprechend schon seit langem Gegenstand der Literaturwissenschaft und einer an den Konzepten von Transgression und Trauma orientierten Erzählforschung (vgl. Petö 2021, Jirku 2022, Lorenz et al. 2022).

Das thematische Heft von DIEGESIS versucht, diese Diskussion, die an psychophysischen Gewaltakten orientiert ist, zu erweitern.

Gewalt erzählen

Call for Papers

DIEGESIS 14.1, Sommerheft 2025

Erscheinungstermin: Juni 2025

Thema: „Gewalt erzählen“

Abgabefrist für Abstracts: 31.03.2024
Abgabefrist für angenommene Aufsätze: 31.12.2024

Zum THEMA:
Die aktuelle Ausstellung des Wiener Sigmund-Freud-Museums „Gewalt erzählen. Eine Comic-Ausstellung“ benennt eine naheliegende Herangehensweise an die erzählerische Vermittlung von Gewalt: „Körper werden in Comics grundsätzlich in ihrer Verletzbarkeit vorgeführt – an ihnen werden Empfindungen, Schmerz und Aggression verkörpert [kursiv im Original]. Mit ihren vielfältigen Verfahren und ästhetischen Möglichkeiten, Erleben von Gewalterfahrungen darzustellen, eignen sich Comics auch dazu, Verdrängtes, Unaussprechliches und Tabuisiertes aufzuzeigen – sie können dazu dienen, Traumata zu adressieren und neue Perspektiven darauf zu eröffnen.“ (Freud-Museum 2023) Die körperliche Gewalt und ihre psychologische Fortsetzung, zu der sich die Grenze nicht immer scharf ziehen lässt, bildet den Kern epischer Erzählungen und tragisch dramatisierbarer Mythen. Zugleich bietet sie einen Anknüpfungspunkt an lebensweltlich höchst relevante Zeugnisse real erlebter Gewalt. Sie ist dementsprechend schon seit langem Gegenstand der Literaturwissenschaft und einer an den Konzepten von Transgression und Trauma orientierten Erzählforschung (vgl. Petö 2021, Jirku 2022, Lorenz et al. 2022).

Das thematische Heft von DIEGESIS versucht, diese Diskussion, die an psychophysischen Gewaltakten orientiert ist, zu erweitern auf Aspekte „struktureller“ Gewalt (Galtung), „symbolischer“ Gewalt (Bourdieu) und „langsamer“ Gewalt (Nixon). Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung prägte Ende der 1960er Jahre das Konzept einer „strukturellen Gewalt“, die nicht wie die klassische Gewalt die direkte Zerstörung des anderen Körpers bezweckt, aber diese indirekt zur Folge hat: Soziale Ungleichheit, insbesondere Armut, Unterdrückung und Entfremdung verringern Lebensqualität und Lebenserwartung. Wie diese in gesellschaftliche Strukturen institutionalisierte Gewalt mit direkten Gewalttaten zusammenhängt, wird in der Soziologie erforscht; ein prägnanter Zusammenhang ist etwa dort gegeben, wo die fehlende juristische Absicherung von Minderheiten deren Verletzung fördert. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu greift mit dem Begriff der „symbolischen Gewalt“ noch weiter aus als Galtung. Bourdieu zufolge beruhen die Strukturen sozialer Ungleichheit selbst auf kulturellen Selbstverständlichkeiten, die schichtspezifisch sind, und bei denen die Oberschicht ihre Wertvorstellungen als die einzig legitimen und erstrebenswerten vorgibt. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft können die bestehenden Strukturen nicht in Frage stellen, weil das System der Kultur diese stützt. Symbolisch gewaltsam ist es, von allen zu verlangen, dass sie sich im Streben nach den Werten der Oberschicht aufreiben, die nur für diese leicht zu erreichen sind. Während Bourdieu dieses Konzept zusammen mit einem Kollegen 1970 vor allem am System der Bildung beschreibt, hat er mittlerweile auch das Verhältnis der Geschlechter in den Blick genommen, das von männlicher Vorherrschaft geprägt ist (1998). Das jüngste Konzept ist das der „langsamen Gewalt“. Der südafrikanische und US-amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Rob Nixon entwickelt dieses, um auf eine zeitliche Dimension der Gewalt aufmerksam zu machen, die weder Galtung noch Bourdieu berücksichtigen. Die soziale Ungerechtigkeit entfaltet ihr Gewaltpotential oft in einer schleichenden Entwicklung, in welcher beispielsweise die ökologischen Belastungen für die benachteiligten Gemeinschaften langsam zunehmen oder sich allmählich überlagern.

Alle drei Formen der Gewalt haben gemeinsam, dass sie sich im Unterschied zu den psychophysischen Gewalthandlungen nicht immer als Transgression auf Ebene der histoire situieren lassen. Die Schwierigkeit ihrer erzählerischen Versprachlichung ist nicht mit Tabus und Traumata in Verbindung zu bringen, sondern mit anderen Faktoren: Sie sind oft nicht an aktives Handeln gebunden, also auch nicht hochgradig narrativ; sie treten oft mit dem Anspruch der Selbstverständlichkeit auf, die sie als praktisch unsichtbar erscheinen lässt; und sie widerstreben den traditionellen Schemata der wichtigsten narrativen Genres (Epos, Novelle und Roman), die in mancher Hinsicht mit spektakulären Ereignissen von strukturellen, symbolischen oder langsamen Formen der Gewalt ablenken.

Wie sich die Erzählforschung programmatisch dieser anderen Gewalt zuwenden kann, ist eine Frage, die als theoretische Herausforderung mit diesem Call verbunden ist. Eine mögliche Antwort liegt in der Differenzierung zwischen einer pragmatischen Funktion des Erzählens und der Präsenz dieser Gewalt innerhalb der erzählten Welt: „Extratextuell kann man […] nach der diskursiven Funktion des literarischen Textes fragen, ausgeblendete Gewalt kollektiv wieder sichtbar zu machen. Auf den Text selbst angewandt, [bedeutet das], die Blickrelationen und (Un-)Sichtbarkeit von Gewalt innerhalb der erzählten Welt zu untersuchen.“ (Augustin 2020: 50) Allerdings können die Mittel des fiktionalen und faktual Erzählens in Spannung zu massiv zirkulierenden gesellschaftlichen Narrativen stehen, die symbolische, strukturelle und langsame Gewalt verdecken oder legitimieren (O’Lear 2016). Eine interdisziplinäre Erzählforschung kann derartige Erzählungen und Gegenerzählungen rekonstruieren und im Dialog mit Natur- und Sozialwissenschaften sowie Medizin die narrativen Grundlagen struktureller, symbolischer und langsamer Gewalt ebenso analysieren wie mögliche Gegenerzählungen und Formen narrativen Widerstands. Deskriptive und normative Narrative des Klimawandels (Gjerstad/ Fløttum 2022; Laird 2022) sind beispielsweise ein eigenes und aktuell besonders ergiebiges Forschungsgebiet der Environmental Humanities.

DIEGESIS sucht Beiträge, die sich mit dem möglichen Beitrag eines der drei Gewaltbegriffe (oder mehrerer) zur Erzählforschung kritisch auseinandersetzen oder die Möglichkeit des Erzählens von struktureller, symbolischer oder langsamer Gewalt untersuchen.

Wir bitten um Abstracts von 350-400 Wörtern bis spätestens zum 31.03.2024. Bitte fügen Sie außerdem eine akademische Kurzvita bei. Schicken Sie beides an die DIEGESIS-Redaktion: diegesis@uni-wuppertal.de. Über die Annahme der Abstracts entscheiden die Herausgeber:innen bis zum 31.05.2024. Die Zusendung der fertigen Aufsätze erwarten wir bis zum 31.12.2024. Erscheinen wird das DIEGESIS-Themenheft „Gewalt erzählen“ im Juni 2025.

Wir suchen außerdem fortlaufend REZENSIONEN zu Neuerscheinungen aus allen Bereichen der Erzählforschung (maximal der letzten 2 bis 3 Jahre), und zwar auch hier ausdrücklich disziplinübergreifend, also nicht etwa nur aus den Philologien. Vorschläge für Rezensionen (in Form von einfachen Titelnennungen der zu besprechenden Bücher und ergänzt durch kurze Informationen zum akademischen Lebenslauf) können jederzeit an die oben genannte Redaktionsadresse geschickt werden. In der Regel können wir Rezensionsexemplare bei den Verlagen besorgen.

Willkommen sind uns zudem jederzeit Vorschläge für TAGUNGSBERICHTE zu allen Veranstaltungen im Bereich der Erzählforschung. Wenn Sie Vorschläge dazu einreichen, bitten wir um kurze Informationen zu Thema, Ort, Datum und den Organisator:innen der Veranstaltung sowie zum eigenen akademischen Lebenslauf.

Über DIEGESIS:
Das von der DFG geförderte E-Journal DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research erscheint als Open-Access-Publikation ausschließlich im Internet (www.diegesis.uni-wuppertal.de).

Der hohe wissenschaftliche Standard der in DIEGESIS veröffentlichten Forschungsbeiträge wird durch ein kompetitives Auswahlverfahren für Beiträge zu Themenheften sowie ein Peer Review-Verfahren gesichert.

Herausgegeben wird die Zeitschrift an der Bergischen Universität Wuppertal und in Kooperation mit dem dortigen Zentrum für Erzählforschung (ZEF) (www.zef.uni-wuppertal.de) von den Professor:innen Matei Chihaia (Spanische und Französische Literaturwissenschaft), Sandra Heinen (Anglistische Literatur- und Medienwissenschaft), Matías Martínez (Neuere deutsche Literaturgeschichte), Katharina Rennhak (Anglistische Literaturwissenschaft), Michael Scheffel (Allgemeine Literaturwissenschaft / Neuere deutsche Literaturwissenschaft) und Roy Sommer (Anglistische Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft).

Zitierte Literatur:
Augustin, Jenny (2020): Gewalt erzählen. Grenzen und Transgressionen im mexikanischen Roman der Gegenwart. Stuttgart.

Bourdieu, Pierre / Passeron, Jean-Claude (1970): La Reproduction. Éléments pour une théorie du système d'enseignement. Paris.

Bourdieu, Pierre (1998): La Domination masculine. Paris.

Freud-Museum (2023): „Gewalt erzählen: Eine Comic-Ausstellung“. In: Sigm. Freud Museum. URL: https://www.freud-museum.at/de/ausstellungen-programm/gewalt-erzaehlen (22.02.2024).

Galtung, Johan (1969): „Violence, Peace, and Peace Research“. In: Journal of Peace Research 6 (H. 3), S. 167–191.

Gjerstad, Øyvind / Fløttum, Kjersti (2022): „From Descriptive to Normative Climate Change Narratives: Theoretical and Methodological Challenges“. In: Oxford Research Encyclopedia of Climate Science. URL: https://oxfordre.com/climatescience/view/10.1093/acrefore/9780190228620.001.0001/acrefore-9780190228620-e-857 (22.02.2024).

Jirku, Brigitte (2022): „Sexualisierte Gewalt erzählen: Literatur. Zeit zu erinnern“. In: PhiN-Beiheft 29, S. 88-106.

Laird, Frank N. (2022): „The ‘save the earth!’ narrative creates a narrative trap for climate advocates“. In: Frontiers in Climate 4. URL: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fclim.2022.900672 (22.02.2024).

Lorenz, Matthias N. / Thomas, Tanja / Virchow, Fabian (Hg) (2022): Rechte Gewalt erzählen: Doing Memory in Literatur, Theater und Film. Stuttgart.

Nixon, Rob (2011): Slow violence and the environmentalism of the poor. Cambridge, MA.

O‘Lear, Shannon (2016): „Climate science and slow violence: A view from political geography and STS on mobilizing technoscientific ontologies of climate change“. In: Political Geography. SI: Violence and Space. 52, S. 4–13. DOI: 10.1016/j.polgeo.2015.01.004.

Petö, Andrea (2021): Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg. Göttingen.

Kontakt

E-Mail: diegesis@uni-wuppertal.de

https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis
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